Mein Traum ist es, zu sterben, während ich unterrichte

Ein Interview mit Wataru Ohashi von Ulrike Schmidt (2023)

Ohashi Sensei ‒ Hand aufs Herz, Sie werden im Juni 79 Jahre alt. Was inspiriert Sie, nach so einer langen Shiatsulaufbahn, immer noch Shiatsu zu unterrichten…

Vielen Dank für diese Frage. Als ich sie gelesen habe, kamen mir die Tränen. Ja, ich werde bald 79 Jahre alt. Das ist an sich schon ein Wunder, denn ich wurde kränklich geboren. Ich unterrichte seit mehr als 50 Jahren. Im nächsten Jahr feiert das Ohashi-Institut sein 50-jähriges Bestehen. Ich habe es damals im Staat New York als gemeinnützige Einrichtung gegründet. Dazu brauchte ich einen guten Anwalt und etwas Geld. Es war die Mühe wert, denn die Gemeinnützigkeit verlieh dem, was ich lehrte, Glaubwürdigkeit. Damals wussten nur wenige Menschen über Shiatsu Bescheid. »Massage« wurde oft missverstanden und von vielen Leuten nicht als ehrbarer Beruf angesehen ‒ selbst in der weltoffenen Stadt New York nicht. Als Lehrer ist es mir wichtig, gegenüber den Schülern und zu dem, was ich unterrichte, eine positive Einstellung zu bewahren. Wenn ich diese Begeisterung gegenüber den Schülern verlieren würde, könnte ich nicht mehr unterrichten. Eine Methode, die ich habe, ist folgende: sobald ich einen Unterrichtsraum betrete, sage ich mir: »Diese Klasse ist die letzte in meinem Leben. Ich will sie zur besten Klasse machen, die ich je unterrichtet habe.« Das bedeutet, ich muss wirklich eine enthusiastische Einstellung gegenüber den Schülern haben. Auch wenn ich schon tausendmal unterrichtet habe, wäre es nicht fair gegenüber Studenten, wenn ich nicht begeistert bin. Sie würden nicht wiederkommen.

Wie lange planen Sie noch zu unterrichten und Shiatsu zu geben?

Da ich ›Ohashiatsu‹ lehre und praktiziere, kann ich das hoffentlich auf unbestimmte Zeit tun. Ich bin fest davon überzeugt und glaube an das, was wir auch in unseren Werbematerialien schreiben: dass die Art und Weise, wie ich Shiatsu praktiziere, mir ebenso viel Nutzen bringt, wie dem Empfänger. ›Ohashiatsu‹ hilft mir, meinen Körper stark und flexibel zu halten, ohne dabei müde zu werden. Darü- ber hinaus hilft mir das Unterrichten die Begeisterung für das, was ich tue, aufrechtzuerhalten, denn ich treffe immer auf interessante Menschen, die sehr motiviert sind, von mir zu lernen. Man kann sagen: sie geben mir Energie.

Mein Motto ist »Ohashi first«. Ich hoffe sehr, dass es meinen Klienten besser geht nach der Behandlung, aber ich fördere in jedem Fall meine Gesundheit, indem ich Shiatsu gebe. Und ich halte meinen Geist flexibel, indem ich unterrichte und von meinen Schülern herausgefordert werde. »Zufällig« haben einige Menschen Freude an meiner Behandlung und dem Unterricht. Sie haben Spaß mit Ohashi, der noch mehr Freude hat als sie. Deshalb kann ich meine Arbeit seit 50 Jahren fortsetzen. Das ist der Grund, warum ich bis zu meinem Tod weitermachen will. Mein Traum ist es, zu sterben, während ich unterrichte. Während einer Shiatsu-Demonstration. Können Sie sich vorstellen, Ohashi stirbt plötzlich inmitten von 200 Schülern? Das wäre ein passendes Ende für meine lange Laufbahn…

Ohashi Sensei, ja, ich kann mir das durchaus vorstellen – das würde gut zu Ihrem Humor passen. Aber bitte warten Sie noch damit und lieber nicht in Deutschland – Sie kennen nicht die deutsche Bürokratie!

Wie hat sich Ihr Unterricht verändert in den letzten Jahren?

Nachdem ich 2011 ganz aus New York City weggezogen bin, bin ich weiterhin viel gereist. Das hat mich an viele verschiedene Orte und zu verschiedenen Gruppen von Studenten in den USA und in Europa geführt. Diese Art des Reisens hält den Geist aktiv und macht das Leben spannender. Aber dann unterbrachen die Covid-Maßnahmen der Regierungen 2020 meine Reiseaktivitäten. So mussten wir einen anderen Weg finden, um unser Netzwerk von Studierenden zu erreichen. Wir begannen mit Online-Unterricht. Das war eine große Herausforderung. Denn ich bin es so sehr gewohnt, direkt vor den Schülern zu unterrichten, ich mag diese Interaktionen mit ihnen und ich vermisse ihr Lachen, wenn ich einen Witz mache.

Ich musste also das Fehlen eines Live-Publikums kompensieren. Mein Sohn Kazu half mir sehr dabei, die Nachteile zu überwinden. Jetzt habe ich eine neue Art zu unterrichten entwickelt. Es ist zwar un- gewohnt und anstrengend, vor einer Kamera ohne Publikum zu unterrichten, aber ich meine, es ist nicht so ermüdend, wie Tausende von Kilometern nach Übersee zu reisen.

Eine Frage an Bonnie Harrington, Ohashi ́s Ehefrau: Wir in Deutschland haben das Sprichwort: hinter jedem erfolgreichem Mann steht eine starke Frau. Wie haben Sie Ohashi ́s Karriere als Shiatsu-Lehrer und Autor unterstützt?

Ich lernte Ohashi 1975 kennen und begann zwei Jahre später mit ihm zusammenzuarbeiten, um das Institut aufzubauen − nachdem sein damaliger Geschäftsführer in ein tibetisches Retreat verschwunden war. Ich war zuvor mehrere Jahre als Buchredakteurin tätig und hatte viel Erfahrung im Redigieren, Schreiben von Werbematerial und Verwalten von Verträgen. All diese Aufgaben waren hilfreich für das, was ich für das Ohashi-Institut tun konnte. Ich habe selbst nie Shiatsu gelernt. Ich habe mich immer im Büro wohler gefühlt. Ich begleitete Ohashi oft, wenn er in Europa unterrichtete und half so, ein Netzwerk von Ausbildern aufzubauen, zuerst in der Schweiz, dann in Deutschland, und schließlich auch in Italien und Frankreich. Es segnete in gewisser Weise mein Leben, unsere vielen Schüler und Ausbilder kennenzulernen, und natürlich: mit einem ganz besonderen Menschen zu leben.

Ohashi Sensei, wie hat sich Ihre Sicht auf Shiatsu im Laufe der Jahre verändert?

Nun, jedes Land hat eine andere Geschwindig- keit des Wandels. Zum Beispiel, in den Vereinigten Staaten, insbesondere an der Westküste und in Kalifornien war das Interesse an Shiatsu in den frühen 1970er Jahren spürbar. Ich ging nach San Francisco, um dort wiederholt zu unterrichten. In Kalifornien wurden jedoch viele Arten der Körperarbeit zur gleichen Zeit populär und ich glaube, Shiatsu verblasste etwas in den 1980er Jahren. In New York dagegen war Shiatsu in den 1970er und 80er Jahren sehr beliebt. Aber das ist es heute auch nicht mehr.

Es gibt verschiedene Gründe für den Rückgang des Interesses. Finanzielle, soziologische und kultu- relle. Einer ist, dass in einigen Ländern ein Praktiker eine Erlaubnis braucht, um praktizieren zu können. Die meisten Massageschulen konzentrieren sich auf westliche Massagen und nicht auf asiatische Methoden. Zum anderen kommt hinzu, SPAs und andere Einrichtungen, die Körperarbeit anbieten, möchten oft keinen Raum extra für die Arbeit auf dem Boden bereithalten.

Ich glaube in New York war der Höhepunkt in den 1980er Jahren. In Deutschland, der Schweiz und England war der Shiatsu-Höhepunkt wohl in den 1990-2000er Jahren. Mein erstes Buch »Do It Yourself Shiatsu« wurde 1976 in den USA veröffentlicht und 1977 auf Deutsch veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich eingeladen, dort zu unterrichten. Es wurde 1977 auf Italienisch veröffentlicht, und ich begann 1986 in Italien zu unterrichten. Die Popularität dieses Buches zeigt mir den Höhepunkt in verschiedenen Ländern.

Sie haben etliche Shiatsubücher geschrieben. Wie würden Sie den Prozess des Schreibens eines Buches beschreiben?

Ich hatte das große Glück, so viele Bücher veröffentlichen zu können. Das Schreiben fällt mir nicht leicht, daher ist es eigentlich seltsam, dass ich dem Schreiben schon so früh in meiner Karriere nachgegangen bin. Ich kannte meine Unzulänglichkeiten als Autor, vor allem im Englischen, und so suchte ich Leute, die mir helfen konnten − vor allem Redakteure, die mein Englisch korrigieren und mein Material ordnen konnten. (Schriftsteller neigen dazu, zu viel mitzuteilen und können nicht gut entscheiden, was sie behalten und was sie streichen wollen).

Aber ich begann erst zu schreiben, als ich genügend Informationen und Erfahrungen gesammelt hatte. Mein erstes Buch »Do It Yourself Shiatsu« wurde 1976 veröffentlicht, nachdem ich etwa vier Jahre lang unterrichtet hatte. Man kann kein Buch über bestimmte Themen schreiben, ohne praktische Erfahrungen. Außerdem, wenn man ein Buch schreibt, das Illustrationen oder Fotos enthält, benötigt man einen Fachmann für die Produktion der Bilder. Auch muss im Auge behalten werden, ob alles inhaltlich korrekt ist.

Sie haben einige neue Bewegungselemente, die Ihnen wichtig sind, ins Shiatsu integriert. Inwieweit haben Sie damit die traditionelle japanische Shiatsu-Praxis beeinflusst oder gar revolutioniert?

Ich bin ein sehr neugieriger Mensch und ich bitte andere Menschen um die Antworten auf meine Fragen. Im Laufe der Jahre hatte ich viele verschiedene Arten von Schülern und Klienten, die mir viele Fragen gestellt haben. Um diese zu beantworten, musste ich neue Bewegungselemente entwickeln. So habe ich etwa 20 verschiedene Modalitäten von Techniken in die Ohashi-Methode® integriert, als Reaktion auf die Unterstützung für einen Klienten oder als Ergebnis dessen, was ich als natürliche Bewegung während einer Behandlung empfinde. Ich habe die Ohashi-Methode nicht entwickelt, um die sogenannte traditionelle japanische Shiatsu-Praxis zu revolutionieren. Ich habe einfach meiner intellektuellen Neugierde folgend studiert und die Ohashi- Methode entwickelt. Wenn meine Methode anderen Praktizierenden hilft, ihren Heilungsstil zu entwickeln, bin ich sehr glücklich.

Eine Frage an Kazu, Ohashis ältesten Sohn: Welche Beziehung hast Du zu Deinem Vater? Du giltst als seine rechte Hand, als sein unverzichtbarer Manager, sein Reisebegleiter… Und wie hast Du von Deinem Vater Shiatsu gelernt?

Wir haben eine gute Beziehung. Aber auch ein Verständnis dafür, was unsere jeweiligen Verantwortlichkeiten, Stärken und Schwächen sind. Ohashi regt mich dazu an, besser zu sein, mehr zu tun und mutig zu sein. Manchmal nervt mich das. Entweder, weil ich das Gefühl habe, dass er zu viel von mir verlangt oder dass ich nicht bereit bin. Aber er scheint mich manchmal besser zu kennen, als ich mich selbst kenne. Ich habe 2015 zum ersten Mal offiziell angefangen, die Reisen meines Vaters zu organisieren und ihn zu begleiten. Zu dieser Zeit lebte ich noch in Portland, Oregon. Wir haben uns dann in Los Angeles getroffen und reisten nach Australien. Seitdem haben wir nicht mehr aufgehört. Wenn ich mit ihm reise, ist es meine Hauptaufgabe, dafür zu sorgen, dass er ausgeruht ist und sich um nichts anderes kümmern muss. Außer um das Unterrichten natürlich. Ich bin mir sicher, dass er eigentlich auch alleine reisen könnte. Er reist schon seit seinen 20ern, als er mit einem Schiff nach Amerika auswanderte. Und seit 1978 nach Europa, um Shiatsu zu unterrichten. Er ist immer auf das Unerwartete vorbereitet. Er hat mir mehr über das Reisen beigebracht, als ich mir je hätte vorstellen können.
In Bezug auf die Ohashiatsu-Technik und die OHASHI-Methode/-Philosophie bin ich noch am Lernen. Außer bei meinem Vater habe ich auch bei anderen Lehrern, die Ohashi ausgebildet hat, gelernt. Aber meine beste Ausbildung habe ich dadurch erhalten, dass ich ihn im Unterricht beobachtet habe. Und dadurch, dass er mich als Modell genommen hat. Den Effekt der Technik am eigenen Körper zu spüren, ist ein großartiger Weg zum Lernen. Es ist wichtig, sich immer wieder an die Grundlagen der OHASHI-Methode zu erinnern: Drücke nicht, sei einfach da. Benutze beide Hände. Sei kontinuierlich. Sei natürlich. Sei dem Leben gegenüber ehrfürchtig. Was Ohashi mich gelehrt hat, ist, vorbereitet zu sein. Immer. Alle Konzentration sollte auf den Schüler, den Klienten, gerichtet sein. Dies ist die beste Lektion, die ich von Ohashi erhalten konnte.

Ohashi Sensei, im Juni wirst Du nach Deutschland reisen um in Berlin den »Masterclass«-Kurs zu unterrichten. Was können die Teilnehmer erwarten von diesem Kurs?

Es wird immer schwieriger, im Namen von Shiatsu zu überleben und erfolgreich zu sein, besonders seit den ›Corona-Jahren‹. Deshalb werde ich meine Erfahrung aus über 50 Jahren als Praktiker, Lehrer und Firmenchef teilen. Ich werde die Teilnehmer darin schulen, wie sie ihren Körper optimal einsetzen können und wie man eine Behandlung professionell durchführt. Das schließt ein, wie man sich dem Klienten gegenüber verhält. Ich werde auch einige neue Methoden vorstellen, die ich als ›Muskel-Meridian-Sedierung‹ bezeichne und meine ›Schaltechnik‹. Dazu kommen zahlreiche Techniken zur Behandlung ganz konkreter Probleme.
Sehr gerne möchte ich meine Erfahrungen mit allen teilen, bringt also viele Fragen mit. Ich werde lehren, wie man mehr Vertrauen in sich selbst als Praktiker aufbaut.

Vielen Dank, Ohashi Sensei, für das Interview!

Wir freuen uns auf Deinen Besuch in Berlin im Juni.

Herzlichen Dank, Bonnie und Kazu.

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